Ludwig Misch

Ludwig Misch wurde 1887 in Berlin geboren. Zwar erhielt er bereits als Jugendlicher Klavierunterricht von Ferdinand Hummel, doch auf Wunsch seines Vaters studierte er zunächst Rechtswissenschaften. Seine Promotion schloss Misch im Jahre 1911 mit einer Arbeit „Der strafrechtliche Schutz der Gefühle“ ab. Erst im Anschluss widmete er sich der Musikwissenschaft und studierte an der Berliner Universität unter Wilhelm Friedländer und Hermann Kretzschmar und danach am Stern‘schen Konservatorium unter Paul Lutzenko, Carl Schröder und Wilhelm Klatte. Von 1909 bis 1913 war er als Hilfsredakteur und Musikkritiker für die „Allgemeine Musikzeitung“ tätig. Seit 1913 wirkte Misch als Theaterkapellmeister in zahlreichen Städten: in Bremen, Essen, Straßburg, Aachen, Osnabrück und Berlin, wo er an Montis Operettentheater und dem Theater des Westens angestellt war. Im Ersten Weltkrieg war Misch Frontkämpfer im Armeebataillon 193.

Seit 1921 beschäftigte ihn der „Berliner Lokalanzeiger“ als hauptamtlichen Musikkritiker. Zusätzlich verfasste Misch regelmäßige Beiträge in der „Europa-Stunde“ und im „Hamburger Fremdenblatt“. Für die Berliner Philharmoniker schrieb er von 1925 bis 1933 Programmeinführungen. Von 1923 bis 1925 fungierte er außerdem als musikalischer Leiter der Berliner Kammeroper und übernahm von 1922 bis 1931 einen Lehrauftrag für Musiktheorie und Musikgeschichte am Stern‘schen Konservatorium, wo er zudem den dortigen Chor leitete. In diese Zeit fällt auch die gemeinsam mit Wilhelm Klatte herausgegebene Festschrift zum 75. Jubiläum des Konservatoriums: „Das Sternsche Konservatorium der Musik zu Berlin 1850–1925.“ Nach Klattes Tod übernahm Misch 1930 auch dessen Kompositionsunterricht am Konservatorium.
1933 entließ ihn der „Berliner Lokalanzeiger“. Zumindest erhielt Misch eine Abfindung in Höhe eines Jahreslohns, die ihn wenigstens vorübergehend finanziell absicherte. Doch seine schriftstellerische Tätigkeit unterlag von nun an starken Einschränkungen. Von 1933 bis 1938 arbeitete Misch als Musikkritiker für das „Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ und im Anschluss bis 1941 für das „Jüdische Nachrichtenblatt“. Vereinzelt veröffentlichte er auch im „Israelitischen Familienblatt“ und in der Zeitschrift des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten „Der Schild“.

Als weiteres ambitioniertes Projekt gründete Misch 1933 einen A-Capella Chor, der erst „Neue Madrigalvereinigung“ und später „Jüdische Madrigalvereinigung“ hieß. Rasch erfolgte die Einbindung im Jüdischen Kulturbund und 1934 gab der Chor sein erstes Konzert. Angesichts der zunehmenden Zensur und schrumpfender Einnahmen löste Misch den Chor schon 1936 auf. Bereits 1933 reiste Misch nach Paris, um die Chancen für eine mögliche Auswanderung auszuloten. Trotz zahlreicher Anlaufstellen und Empfehlungsschreiben von Wilhelm Furtwängler blieb dieses Bemühen erfolglos. Er kehrte unverrichteter Dinge nach Berlin zurück, wo er 1935 als Jude aus der Reichsschrifttumskammer und der Reichsmusikkammer ausgeschlossen wurde. Am 1. September 1935 wurden Mischs Werke in die „Goebbels-Liste“ aufgenommen. Zeitgleich erreichte ihn die Kündigung seiner Wohnung am Breitenbachplatz aus „rassischen Gründen“. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, unterrichtete Misch seit 1935 als Musiklehrer an der Privaten Jüdischen Waldschule Grunewald. Doch 1935 wurde ihm auch diese Lehrerlaubnis entzogen.

Als Teilnehmer an der Kulturtagung des Reichsverbandes der Jüdischen Kulturbünde in Deutschland hielt Misch 1936, laut eigener Aussage, eine Stegreifrede über das Chorwesen, in der er die Selbstverpflichtung zu jiddischem Liedgut aus „‚voelkischen‘ Rücksichten“ kritisierte und somit den anwesenden „Kulturverwalter“ Hans Hinkel, Sonderbeauftragten „für die Überwachung der ‚geistig und kulturell tätigen Nichtarier‘“ brüskierte.
1939 wurde die Jüdische Waldschule Grunewald aufgelöst. Zwar gelang es Misch, seine 1937 wiedererlangte Erlaubnis zur Lehrtätigkeit an der Schule der Jüdischen Gemeinde sowie im Auerbach‘schen Waisenhaus fortzusetzen, aber 1941 musste er endgültig aus dem Schuldienst ausscheiden. Einzig seine „Mischehe“ mit Anni (geb. Brix) bewahrte Misch wohl trotz zweier zugestellter Befehle vor der Deportation. Seit März 1943 musste er Zwangsarbeit in der jüdischen Bibliothek im Amt VII des Reichssicherheitshauptamtes leisten. Seine Hauptaufgabe war die Katalogisierung und Ordnung geraubter „jüdischer“ Bücher, das Packen und Verladen der zentnerschweren Bücherkisten auf Lastautos und seit Beginn der Luftangriffe Aufräumarbeiten sowie Luftschutzwachen. Anni wurde Ende 1944 im Rahmen der „Entehrungsaktion“ ebenfalls zur Zwangsarbeit in der Packerei des Deutschen Verlags verpflichtet.

Nach Kriegsende nahm Misch erneut seine Lehrtätigkeit am Stern‘schen Konservatorium auf, das nun Städtisches Konservatorium hieß, und der Schöneberger Bürgermeister beauftragte ihn mit der Gründung eines Orchesters. Aus bislang unbekannten Gründen wurde Misch 1947 von Angehörigen der sowjetischen Besatzungsmacht festgenommen. Unmittelbar nach seiner Freilassung wanderte er im gleichen Jahr in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo er sich in New York niederließ. Neben seinen Aufgaben als Dozent, Musikkritiker und Dirigent war Misch auch ein Experte für Beethoven und sein Werk, dessen Erforschung er sich fortan widmete. Bis zu seinem Lebensende veröffentlichte er knapp 40 Artikel. Misch starb 1967 in New York.

Lebensstationen:

Berlin - Bremen - Essen - Straßburg - Aachen - Osnabrück - New York

Literaturhinweise :

Erinnerungen an die Zeit des nationalsozialstischen Terrors,  ME 445 (http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=394310)

Ludwig Misch Collection (1887-1967) 1933-1967, AR 2073 (http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=475422)

Fetthauer, Sophie. Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM), 2007, aktualisiert am 23. November 2010: http://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002772

Akademie der Künste (Hrsg.). Geschlossene Vorstellung: Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933-1941, Berlin: Hentrich & Hentrich, 1992.

Weber, Horst (Hrsg.). Musik in der Emigration 1933-1945: Verfolgung - Vertreibung - Rückwirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994.

Weber, Horst/Drees, Stefan (Hrsg.). Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker 1933-1950/Sources Relating to the History of Emigré Musicians 1933-1950, Bd. 2, New York, München: K.G. Saur Verlag, 2005.

Traber, Habakuk/Weingarten, Elmar (Hrsg.). Verdrängte Musik: Berliner Komponisten im Exil, Berliner Festspiele GmbH, Berlin: Argon Verlag, 1987.

Geiger, Friedrich. Die „Goebbels-Liste“ vom 1. September 1935: Eine Quelle zur Komponistenverfolgung im NS-Staat, in: Archiv für Musikwissenschaft, Jg. 59, H. 2, Stuttgart: Steiner Verlag, 2002, S. 104-112.

Kuttner, Fritz A. Ludwig Misch (1887-1967), in: Journal of the American Musicological Society, Vol. 21 No. 3, Autumn, 1968, S. 409 f.

Limberg, Margarete/Rübsaat, Hubert (Hrsg.). Sie durften nicht mehr Deutsche sein. Jüdischer Alltag in Selbstzeugnissen 1933-1938, Berlin: Aufbau Verlag, 2003, S. 198-203.

Limberg, Margarete/Rübsaat, Hubert/Nothnagle, Alan L. (Hrsg.). Germans No More: Accounts of Jewish Everyday Life 1933-1938, Oxford: Berghahn Books, 2011, S. 186 f.